Susanne Julie Ohr-Bindschedler

Susanne Julie Bindschedler, genannt Julie, wurde am 4. April 1881 in Uster ZH geboren, als Tochter des Friedrich August Bindschedler, Kaufmann und der Julie Lejeune. Friedrich August Bindschedler, genannt August, hatte 1874 die Prokura in der Andreas Bindschedler Florett-
seidenspinnerei in Uster, der Firma des Vaters inne. 1904 wird August als gewesener Kaufmann erwähnt. Die Eltern waren erst in Uster ZH, sicher 1904 am Alpenquai 22 in Zürich Enge wohn-haft. Die Hausnummer dürfte auf das weisse oder rote Schloss am heutigen General-Guisan-Quai hindeuten.

Julie wuchs zusammen mit ihren beiden Schwestern - der sieben Jahre älteren Agathe und der drei Jahre jüngeren Alice - in einem grossbürgerlichen Haushalt auf. Über ihre Kindheit ist nur wenig bekannt. Als Kind Lulu gerufen, dürfte sie in Uster ZH aufgewachsen und zur Schule ge-gangen sein.

Der Vater war streng, die Mutter zurückhaltend, den moralischen und religiösen Grundsätzen der franzö­sisch-reformierten Kirche verpflichtet. Für Mädchen aus diesen grossbürgerlichen Kreisen war es damals nicht schicklich, einen Beruf zu ergreifen. Die ältere Schwester Agathe studierte zwar Sprachen, durfte je­doch nicht ins Ausland gehen. Sie unterstützte jedoch später Julie in ihrem Bestreben, Medizin zu studie­ren. Gut vorstellbar, welche Auseinandersetzungen mit den Eltern auszustehen waren.

«Lulu», wie sie auch von ihren Klassenkameradinnen gerufen wurde, besuchte die Höhere Töch-terchule am Grossmünster in Zürich. Sie bestand im Jahre 1900 die Abschlussprüfung, welche sie berechtigt hätte, Lehrerin zu werden. Julie war eine energische junge Dame und ihre Klassenkameradinnen empfanden sie als «unabhängig, stets munter», «eine ohne Furcht», die ihre Meinung klar und deutlich äusserte. Oft stand sie von der Schulbank auf und rief: «I bin ganz dergäge!»

Offenbar setzte Julie auch gegenüber den Eltern ihren Willen durch, denn sie wollte unbedingt Medizin studieren. Damals wohl eine kleine Sensation, waren doch Frauen an der Universität eher eine Seltenheit und wurden nicht mit offenen Armen empfangen, doch legte man ihnen auch nicht unüberwindliche Hinder­nisse in den Weg. In Deutschland hingegen war es Frauen praktisch verunmöglicht, zu studieren. Julie musste somit zuerst die Maturitätsprüfung für Ärzte, Zahnärzte und Apotheker bestehen. Insbesondere musste sie das ganze Latein nachholen. Schliesslich bestand sie im März 1901 nach viertägiger externer Prüfung vor der Maturitätskommission in Basel die Matura mit den besten Noten in den naturwissenschaft­lichen Fächern.

Julie wollte unbedingt im Ausland studieren und die Familie unterstützte sie schliesslich nach Kräften. So begleitete sie der Vater nach Berlin, denn auf einer so weiten Reise durfte eine junge Dame nicht ohne Be­gleitung sein. Er finanzierte schliesslich den Aufenthalt und das Studium. In Berlin absolvierte sie das Win­tersemester 1901/02 zuerst an der Königlichen Friedrich Wilhelm Universität in Berlin, allerdings nur als Hospitantin. Sie war somit nur als Gasthörerin geduldet. Das heisst, sie durfte zwar Vorlesungen besu­chen, konnte jedoch keine Prüfungen ablegen.

Frauen waren an der Universität nicht willkommen, wie auch im Tagebuch der Julie ausführlich darüber berichtet wurde. Julie war mit anderen Studentinnen zusammen in einer Pension zweier «Fräulein von Busse» untergebracht. Die Töchter aus gutem Hause waren auch in ihrer Freizeit-gestaltung vielen gesellschaftlichen Zwängen unterworfen. So durften die Studentinnen am Abend nicht alleine ausgehen und es gab noch viel mehr Einschränkungen und Verhaltensmassregeln. Einer aus Zürich stammenden jungen Frau dürfte sich der Aufenthalt in der Metropole Berlin sicherlich einen grossen Eindruck gemacht haben und sie besuchte Theater und Konzerte.

Nach dem Wintersemester kehrte sie nach Zürich zurück und begann im Sommersemester 1902 mit dem Studium der medizinischen Naturwissenschaften an der Universität Zürich. Sie war auch im Wintersemester 1904 und im Wintersemester 1906 dort eingeschrieben. Im Jahre 1904 wird sie als stud.med. in München erwähnt, wo sie auch als Gasthörerin eingeschrieben war. Es folgte ein weiteres Auslandsemester - wohl das Wintersemester 1905/1906 - an der Universität Tübingen, welches ihr angerechnet wurde. Julie legte Prüfungen in Zürich am 13. April 1904, am 4. Oktober 1905 und am 2. Juli 1907 ab.

Kurze Zeit nach ihrem Tübinger Aufenthalt lernte sie Louis Wilhelm Ohr, den Bruder ihres Schwa-gers Her­mann, kennen, der mit Julies Schwester Agathe in Tübingen verheiratet war. Nur kurz nach dem Tode ihres Vaters und der erfolgreichen Beendigung ihres Studiums im gleichen Jahr, heiratete sie am 7. Sep­tember 1907 Dr. phil. Louis Wilhelm Ohr von Tübingen DEU. Aus deren Ehe entsprangen drei Söhne, unter anderem Kurt Ohr, der das Tagebuch der Julie Bindschedler aufarbeitete und herausgab.

Wilhelm Ohr wurde im Mai 1907 Leiter des Nationalvereins für das liberale Deutschland mit Sitz in Mün­chen. Dieser Verein hatte sich die Aufgabe gestellt, durch Schriften, Vorträge und Kurs, an denen freiberuf­lich Tätige, Angestellte und Arbeiter teilnahmen, liberales Gedankengut zu verbreiten, um die zahlreichen liberalen Parteien, Gruppierungen und Vereine im Reich zu unterstützen und zu einer grossen liberalen Be­wegung zusammenzuschliessen. Die Organisation sah sich als Erbe des Nationalvereins von 1859, welcher die nationale Einheit Deutschlands und den Ausbau der Freiheit im Innern anstrebte.

Das Glück währte nicht lange. Wilhelm Ohr fiel 1916 im ersten Weltkrieg und im darauffolgenden Jahr ver­öffentlichte Julie einen Nachruf auf ihren verstorbenen Mann mit dem Titel «Aus den letzten Lebenswochen von Wilhelm Ohr».

Julie Bindschedler war schon sehr früh in der bürgerlichen Frauenbewegung tätig und wurde 1919 Vor­sitzende der Deutschen Demokratischen Partei in Frankfurt am Main. Im Hausstandsbuch ist die Adresse Unterweg 18, Frankfurt a. Main, angegeben und das Religionsbekenntnis wurde mit «freireligiös» vermerkt. Den Nationalsozialisten war Julie offenbar ein Dorn im Auge, wurde sie doch am 11. November 1933 mit einer Reisepasssperre belegt. Sie lebte sicher von 1919 bis 1943 in Frankfurt am Main DEU. Über ihr weite­res Schicksal ist bisher nichts bekannt .

Der Nachlass des Ehepaars Wilhelm und Julie Ohr-Bindschedler, welcher nur fragmentarisch den Zeitraum von 1895 bis 1928 umfasst, gelangte wohl Ende des Zweiten Weltkrieges in die Sowjetunion, wo sich auch heute noch neun Bände (Signatur: Fond 1284) im «Zentrum für die Aufbewahrung historisch-dokumentari­scher Sammlungen» in Moskau befinden. Später gelangte wohl ein Teil des Nachlasses ans Institut für Marxismus-Leninismus des Zentralkomitees der SED in Berlin, welcher im April 1961 dem Deutschen Zen­tralarchiv in Potsdam übergeben wurde (Signatur 90 Oh 1). Schliesslich fand der Nachlass des Ehepaars eine vorläufig endgültige Bleibe im Bundesarchiv (Signatur BArch N 2219). Ausser einem Findbuch, welches 1998 erstellt wurde, und der Integration und Bearbeitung der Erschliessungsinformationen in der Datenbank und einem Online Findbuch, welches 2005 erfolgte, fand keine Bearbeitung statt.

» Biographie von Susanne Julie Ohr-Bindschedler inkl. Quellenangaben

» Susanne Julie Ohr-Bindschedler (geb. 1881). Das Tagebuch der Julie Bindschedler. Von Kurt Ohr.

Publikationen, Werke:
» Ohr, Julie: Die Studentin der Gegenwart. Buchhandlung Nationalverein München 1909. Broschure 42 Seiten
» Ohr, Julie: Wie verschaffen wir unseren Dienstboten einen vergnügten Sonntagnachmittag? In: Ethische Kultur, Halbmonatsblatt für ethisch-soziale Reformen. Herausgegeben von Rudolph Penzig. 20. Jahrgang (1912). Heft 22. Verlag für ethische Kultur Richard Bieber. Berlin 1912. Seite 173-174
» Ohr Julie: Aus den letzten Lebenswochen von Wilhelm Ohr. 1917. 35 Seiten